Michael Biegler und die andere Herausforderung

EM Polen

14.01.2016

Krakau. Auf den Schultern von Michael Biegler lastet von diesem Freitag an eine große Last, denn der deutsche Trainer soll die polnischen Handballer zum Titel im eigenen Land führen, nicht weniger erwartet die Öffentlichkeit. 
Mit der Partie gegen Serbien startet die Auswahl des polnischen Verbandes (ZPRP) in die Europameisterschaft. Durch die Krakau-Arena, in der die polnische Mannschaft alle Partien austrägt und in der am 31. Januar das Endspiel steigt, wird eine weiß-rote Welle der Begeisterung schwappen. Biegler wird die Partien seiner Mannschaft mit aufgerissenen Augen und wild gestikulierend begleiten. Die Sport-Welt wird dann den Handballlehrer erleben, der hochemotional am Spielfeldrand und streitbar in der Vor- wie Nachbetrachtung ist. Zu Beginn dieser Woche deutete noch nichts darauf hin. Zwei Tage Auszeit gönnte Biegler sich und seinen Spielern nach einer intensiven Phase der Vorbereitung. Der 54-Jährige kehrte zu seiner Familie nach Großwallstadt zurück. »Hier kann ich in Rekordzeit abschalten«, sagt Biegler und wenn er sich im Kreise seiner Familie befindet, scheint es, als wohnten in seinem Körper verschiedene Persönlichkeiten. Ein Fall für den Psychologen ist der vielschichtige Mann aber nicht, vielmehr besitzt er eine selten gewordene Eigenschaft: Er ist zu 100 Prozent authentisch. Biegler ist viel herumgekommen. Seit 1985 arbeitet er als Co-Trainer und Chefcoach, 13 Vereinsmannschaften betreute er. »Beagle«, wie er in Handballer-Kreisen genannt wird, ist eine Marke und es gibt niemanden, der an seiner fachlichen Kompetenz zweifelt. Der Sprung zu einem Topklub im Oberhaus blieb aber all die Jahre aus. Vermutlich, weil der geradlinige Biegler zu unbequem erschien. Und vermutlich auch, weil es Vorbehalte gegen ihn gab. Vor 16 Jahren befand sich Biegler am Abgrund. Alkohol- und Medikamenten-Missbrauch hatten ihn dorthin gebracht. Das Umfeld des Profisports bietet Gefahren sowie Verlockungen und der Trainer drohte, ihnen zu erliegen. Doch soweit kam es nicht, ein befreundeter Arzt und seine Mutter halfen ihm, aus der Abstiegsspirale auszubrechen. Und er selbst.

Stringente Entwicklung

Seither nimmt er keinen Alkohol mehr zu sich, auch nicht verkocht im Essen. Gleiches gilt für Medikamente. »Ich habe das hinter mir«, sagt Biegler und viel mehr noch als die Tatsache an sich beeindruckt sein Umgang mit diesem Teil seiner Vergangenheit. Für Personen wie ihn gibt es im Umgang mit der persönlichen Historie zwei einfache Wege. Sie schweigen zu dem Thema oder sie versuchen, Kapital daraus zu schlagen, in dem sie sich für den erfolgreichen Kampf feiern – und feiern lassen. Michael Biegler geht den dritten, den schwierigen Weg, er lebt ganz einfach damit. Er lebt damit, dass hinter seinem Rücken immer wieder getuschelt wird. Michael Biegler ist stark genug, um damit klar zu kommen und wenn er heute darüber spricht, tut er das beeindruckend unaufgeregt. Im Januar 2013 stand Biegler im Palau Sant Jordi in Barcelona und seine Augen verrieten nach der 19:27-Klatsche im Achtelfinale der Weltmeisterschaft gegen Ungarn Angriffslust. Wenige Wochen nach seinem Dienstbeginn für den polnischen Verband zog das unerwartete Aus ein mediales Erdbeben in Polen nach sich. Nicht die Niederlage an sich, sondern deren Deutlichkeit erschreckte die Öffentlichkeit. Für Biegler hätte es, rückwirkend betrachtet, kaum besser kommen können. Wahrscheinlich erhielt der Trainer in den Jahren nach der Ungarn-Pleite deshalb freie Hand, weil in Barcelona offensichtlich geworden war, dass der seitherige Weg der Polen keinen Erfolg mehr bringen würde. Der neue tut es offensichtlich, denn seit dem Rückschlag in Spanien geht es für die Polen mit Biegler aufwärts. Es ist nachvollziehbar, wenn der gebürtige Rheinländer jetzt mit einer gesunden Portion Gelassenheit in die Heim-EM startet und von einer »stringenten Entwicklung« spricht. Nach der enttäuschenden WM 2013 wurde Polen bei der EM ein Jahr später Sechster, ehe das Team vor zwölf Monaten bei der WM in Katar Bronze gewann. Die Erfolge befriedeten die kritische Öffentlichkeit. Von diesem Freitag an liegen jetzt die Erwartungen eines ganzen Landes auf seinen Schultern. »Der Deutsche«, wie Biegler in Polen genannt wird, soll für eine Wiederholung des polnischen Märchens von 2014 sorgen. Die Volleyballer hatten vor anderthalb Jahren, getragen von einer Welle der Begeisterung, die Weltmeisterschaft im eigenen Land gewonnen. Die Handballer sollen nachziehen, der Druck muss entsprechend riesig sein. »Ich verspüre keinen Druck«, sagt Biegler. Er hat schon schwierigere Herausforderungen gemeistert.
Michael Wilkening