Keine Übermannschaft
»Es gibt keine Übermannschaft in diesem Turnier«, sagte die deutsche Handball-Legende Stefan Kretzschmar (218 Länderspiele für Deutschland) Flensborg Avis bereits eingangs der Hauptrunde in Breslau. Die Einschätzung des 42-Jährigen traf vollends zu. Denn kurz darauf erlebten sogar die Dänen, die ihre vier ersten Spiele allesamt gewannen, ihren kollektiven Kollaps. Mit einem mageren Punkt aus den Partien gegen Schweden und Deutschland begruben Trainer Gudmundur Gudmundsson und seine Schützlinge ihre Medaillen-Ambitionen selbst. Auch der entthronte Titelverteidiger Frankreich, immerhin amtierender Weltmeister und Olympiasieger, fuhr enttäuscht nach Hause. Ganz zu schweigen von den als EM-Gastgeber hochgehandelten Polen, dessen Trauerspiel gegen Kroatien (23:37) alles zunichte machte und Trainer Michael Biegler die Flucht ergreifen ließ. Von den vier Großen (Frankreich, Dänemark, Spanien, Kroatien) waren nur die beiden Letztgenannten beim Final-Wochenende am Ball. So wurde es in erster Linie zu einer EM der Überraschungen, denn auch die Norweger hatte vor dem Kräftemessen in Polen doch keiner wirklich auf der Rechnung. Das Team von Cheftrainer Christian Berge und seinem Assistenten Glenn Solberg (beide ehemals Spieler der SG Flensburg-Handewitt) ist neben dem DHB-Team der große Gewinner dieser EM.
Spielplan stößt übel auf
Während der Hauptrunde wurde in den Mannschaftslagern viel über den Spielplan geredet. Während Deutschland (spielte am 16., 18., 20., 22., 24., 27., 29., und 31. Januar) sich glücklich schätzen konnte, stets mindestens einen Tag Pause zu haben, traf es Mannschaften wie Schweden oder Dänemark in einer wichtigen Phase im Kopf und am Körper knüppeldick: Nach der Vorrunde in Danzig und Umzug zur Hauptrunde nach Breslau war bei den Dänen mit drei spielfreien Tagen vor dem Kracher gegen Spanien (Gruppenerster der Gruppe C) zunächst der Rhythmus in Gefahr. Zum Hauptrunden-Abschluss wurde Dänemark binnen 20 Stunden erst Schweden und dann Deutschland serviert. Quasi eine Strafe für den Gruppensieger der Vorrunde. Die Schweden hatten sogar nur 18 (!) Stunden, um sich nach dem Dänemark-Krimi (28:28) für das Mittwoch-Spiel um 16 Uhr gegen die Ungarn zu regenerieren und vorzubereiten. »Fürchterlich« bezeichnete Kapitän Tobias Karlsson (SG Flensburg-Handewitt) dies. Obwohl er sich später natürlich freute, als seine Blau-Gelben mit dem Sieg gegen Ungarn doch das Ticket fürs Olympia-Qualifikationsturnier in der Tasche hatte. Bei der Nachbetrachtung dieser EM beim europäischen Handballverband (EHF) gehört der Spielplan ganz weit nach oben auf die Tagesordnung. Apropos Karlsson. Der Beginn dieser EM in Polen ist unweigerlich mit seinem Namen verbunden. Mit der Ankündigung des 34-Jährigen, bei diesem Turnier mit einer regenbogenfarbenen Kapitänsbinde aufzulaufen, um ein Zeichen für Toleranz und Gleichbehandlung aller Menschen zu setzen, ging die Endrunde abseits der Hallen schon einige Tage früher los. Karlsson, der größtenteils Zustimmung für sein Vorhaben erfuhr, trug schließlich keinen Regenbogen am Arm. Er durfte nicht. Die EHF hatte es verboten und musste dafür viel Kritik einstecken. Und Polen? Der EM-Gastgeber hat seine Sache gut gemacht. Nie zuvor war dieses große Land Gastgeber eines internationalen Großturniers im Handball. Die Hallen in Breslau, Danzig, Krakau und Katowice waren meist gut gefüllt. Die Stimmung stimmte. Und seien wir mal ehrlich: Eine EM in einem Land zu erleben wo dieser eine gewisse (wenn auch ausbaufähige!) Beliebtheit hat und Euphorie entfacht, so ist das viel schöner und mehr Wert, als eine WM wie 2015 in Katar.
Marc Reese